Wie unser Leben unsere Gene prägt

Wir leben im Zeitalter der Gene. Fast im Wochenrhythmus werden neue entdeckt, die für Herzinfarkt, Gallensteine, Übergewicht, Kettenrauchen, sexuelle Vorlieben, Stressanfälligkeit, Einfühlungsvermögen, Alkoholsucht, Schizophrenie etc. verantwortlich sein sollen. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich: In den meisten Fällen ist an den Befunden nicht viel dran.

Beispiel Übergewicht: Zwei Gene sollen mit einem höheren Körpergewicht zusammenhängen. Wer beide Genvarianten hat, bei dem ist der Body-Mass-Index (BMI) geringfügig erhöht. Doch nur bei einem Prozent der Bevölkerung finden sich beide Genvarianten überhaupt. Auch ein kürzlich entdecktes besonderes Kettenraucher-Gen entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als ein ziemlich unbedeutendes Ereignis: 1,5 Zigaretten sind es zusätzlich, die ein Kettenraucher (40 bis 60 Zigaretten und mehr pro Tag) mit diesem Gen mehr raucht.

Ist Rauchen genetisch bedingt?

Doch wie hörte es sich in den Nachrichten und der Tagespresse an? Rauchen sei ein „genetisch bedingtes Laster“ oder „Gene geben Rauchern den Takt vor“. Die meisten dieser „entdeckten Assoziationen sind aufgeblasen“, zitiert Jörg Blech in seinem neuen Buch „Gene sind kein Schicksal“ (S. Fischer Verlag) den griechischen Wissenschaftler John Ioannidis. Und noch weniger hätten diese Forschungsergebnisse irgend einen praktischen Nutzen.

Anders ist es natürlich mit den wirklich klar genetisch bedingten Krankheiten. „Keine Frage, bei ihnen hängt ein bestimmter Gendefekt eindeutig mit zum Teil schweren Symptomen zusammen. Es gibt mehr als 6000 dieser monogenen Erbkrankheiten, wobei ihre Verbreitung in der Bevölkerung allerdings sehr gering ist“, so Jörg Blech.

Immer noch wird nach den genetischen Ursachen für Volksleiden gesucht. Doch gerade bei Herzkreislauferkrankungen, erhöhten Blutfettwerten, Übergewicht, Typ-2-Diabetes etc. zeigt sich, dass diese Zivilisationskrankheiten mit einer ganzen Fülle von Faktoren zusammenhängen.

Allein 95 verschiedene Gene für Herzleiden hat man bislang gefunden

Vorhersagen zu treffen, dass eine solche Krank­heit aufgrund von vorhandenen oder nicht vorhandenen Genen auftritt, ist noch nicht mal ansatzweise möglich. Allein 95 verschiedene Gene für Herzleiden hat man bislang gefunden. Und ein Ende ist noch nicht abzusehen. Echte Risikogene, die diese Bezeichnung auch verdienen, so Jörg Blech, beschränken sich auf Ausnahmen, „die man an einer Hand abzählen kann.“

Wenn schon der praktische Nutzen der Genforschung für die Behandlung von Volkskrankheiten gering ist, so hat sich doch etwas anderes herauskristallisiert: Die Bedeutung der Umwelt. „Das Dogma, die Gene kontrollierten die Biologie ist falsch“, fasst Jörg Blech die Forschungsergebnisse zusammen. „Die Umwelt und die Gene bedingen einander und wirken stets im Zusammenspiel. Äußere Einflüsse drücken dem Erbgut ihren Stempel auf. Unser Körper hat ein Gedächtnis. Erfahrungen und Lebensstil hinterlassen Spuren im Zellkern – die Menschen schreiben ihr Leben lang an ihren molekularen Memoiren.“ Das, was dieser Forschung einen so optimistischen Unterton verleiht, ist die Tatsache, dass die „Prägung nicht für den Rest des Lebens gelten muss, sondern dass wir sie ändern können.“

Chronischer Stress kann uns bis in die Zellen hinein verändern

Tierexperimente standen am Anfang: Die guten Einflüsse aus einer neuen Umgebung können Prägungen aus der alten Umwelt gleichsam überschreiben und ungeschehen machen. So konnte durch eine besondere Nahrung die Fellfarbe und sogar das Fressverhalten von Mäusen gesteuert werden. Das dahinter stehende Phänomen könnte auch erklären, warum Asiaten, die besonders viel Produkte aus der Sojabohne verzehren, seltener an Brust- und Prostatakrebs erkranken. „Ob ein Mensch sich körperlich bewegt, Wurst oder Gemüse isst, das alles hinterlässt Spuren, die erstaunlich schnell auftauchen können“, sagt Jörg Blech. Diese Spuren lassen sich bis in den Körperzellen nachweisen.

Stress stört das Wachstum neuer Nervenzellen

Auch chronischer Stress kann uns bis in die Zellen hinein verändern: Wie ein Dauerfeuer verändert er die Physiologie der Nervenzellen – der grübelnde Geist wird zur kranken Seele. Lange haben Wissenschaftler gerätselt, warum Dauerstress zu Depressionen führt und das Gedächtnis verschlechtert. Der Grund: Stress stört das Wachstum neuer Nervenzellen in bestimmten Hirnarealen. Dagegen helfen Pillen – oder Fitness und Meditation. Letzteres wirkt nicht nur beruhigend, sondern lässt auch die Hirnrinde wachsen –  etwas, was bis vor kurzem undenkbar war. Hielt man doch alles rund ums Gehirn für genetisch bedingt. 

Auch unser Blutgefäßsystem ist kein starres Gebilde, sondern erstaunlich wandelbar. So lassen regelmäßige Fitnessübungen neue Blutgefäße wachsen, sogar voll funktionsfähige Adern können entstehen – von genetischer Vorbestimmtheit spricht niemand. „Arteriogenese“ heißt dieses Blutgefäßwachstum, das sich Mediziner jetzt auch bei der Behandlung von Herzpatienten zunutze machen.

Die Umwelt hat einen erheblichen Einfluss auf die Intelligenz

Und wie sieht es mit der Intelligenz aus? Ist die nicht wenigstens durch unsere eigenen Gene festgelegt? Auch hier kommt die Forschung im Zusammenhang mit Adoptionen zu erstaunlichen Ergebnissen. Jörg Blech: „Wenn Kinder reicher Eltern von armen Familien aufgenommen wurden, dann wiesen sie einen durchschnittlichen IQ von 107,5 auf. Wenn Kinder reicher Eltern dagegen von reichen Familien adoptiert wurden, dann verfügten sie über einen durchschnittlichen IQ von 119,6. Das ist ein Unterschied von 12 Punkten – die Umwelt hat also einen erheblichen Einfluss auf die Intelligenz.“

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